Secret Santa

Content Warnung: In dieser Geschichte geht es um kranke Kinder, Krebs und Tod. Wenn du dennoch weiterlesen willst - gute Unterhaltung. Du darfst die Geschichte gern in meinem Gästebuch kommentieren, wenn dir danach ist.

Der alte Mann ging torkelnd, schwer beladen die Straße entlang. Er wäre fast umgekippt so schwer war die Last. Da trat er auf ein vereistes Stück und fiel hin. Ein Passant ging an ihm vorbei und murrte: „Immer diese vollen Säcke in der Straße, könnt ihr euch keinen anderen Platz zum Pennen aussuchen?“

Mit einem leisen Stöhnen kroch der alte Mann zur Hauswand und zog sich daran hinauf. Vorsichtig trat er von einem Bein auf das andere. Ernsthafte Verletzungen hatte er bei seinem Sturz scheinbar nicht davongetragen, die blauen Flecken würden ihn aber einige Zeit an seinen unfreiwilligen Kontakt mit dem Bürgersteig erinnern. Jetzt musste er sich beeilen. Er wurde erwartet.

Ächzend schulterte er den Sack, der ihm bei seinem Unfall von den Schultern gerutscht war. Beinahe wäre er dabei wieder hintenüber gefallen. Langsam und bedächtig setzte er seinen Weg fort, den Blick gesenkt, um nicht noch einmal eine Eisplatte zu übersehen.

Zu Hause schloss der alte Mann seine Wohnungstür auf, hinter der ihn Stille und Dunkelheit erwarteten. Draußen dämmerte schon der Abend. In den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite flammten beleuchtete Papiersterne und Schwibbogen auf. Später würde der alte Mann auch die Kerzen am Adventskranz anzünden, der auf dem Wohnzimmertisch auf ihn wartete. Vier mussten es heute sein. In zwei Tagen war Heiligabend.

Er ging in sein kleines Bad. Aus dem Spiegel schauten ihm müde Augen mit tiefen Ringen und deutlichen Tränensäcken entgegen. Da waren auch Lachfalten, sicher, aber die stammten aus einer vergangenen Zeit. Nur eine Tradition war ihm aus diesem, seinem alten Leben geblieben. Und auf die bereitete er sich jetzt vor.

Sorgfältig stutzte er seinen Bart und strich mit einem Kamm über seine buschigen Augenbrauen. Die Nachbarskinder hielten ihn schon für den Weihnachtsmann, wenn er nur seinen langen schwarzen Wollmantel anhatte, den er immer zur Kirche trug. So war es schon immer, seit seine Haare und sein Bart erst grau und dann weiß geworden waren, leicht für ihn gewesen, sich für seine Aufgabe zu kostümieren.

Für die Illusion, er sei der Weihnachtsmann, fehlte ihm nur noch die passende Kleidung. An diesem Tag war er froh, dass er sich eher der christlichen Tradition des Nikolaus‘, denn der Werbung eines amerikanischen Softdrink-Herstellers verpflichtet sah. Unter seinem Gewand konnte er tragen, was er wollte, ohne dass es jemandem auffiel. So hüllte er sich in die Weste, die ihm seine Frau vor fünf Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte, und legte sich einen Schal um, bevor er in das Bischofsgewand schlüpfte. Die Mitra verstaute er in einem Beutel. Vor einigen Jahren war sie im starken Wind davon geweht. Als er sie dann wiedergefunden hatte, war sie vom Schlamm der Straße beschmutzt gewesen. Jetzt glänzte sie in samtenem Weißgold. Statt ihr setzte er sich eine einfache graue Wollmütze auf seinen Kopf. Bevor er vor die Augen der Kinder trat, hatte er bestimmt noch Gelegenheit, sein im Vergleich zum letzten Jahr wieder schütterer gewordenes Haar in Ordnung zu bringen.

Er schulterte seinen Sack mit den kleinen Spielzeugen, die er nachher zusätzlich zu den Dingen, die ihm die Eltern der Kinder vor seinem Auftritt gaben, um die Illusion des Weihnachtsmannes aufrecht zu erhalten, verteilen wollte. Das hatte er schon immer gemacht, seitdem er das erste Mal seine Dienste angeboten hatte. Damals hatte ihm seine Frau noch dabei geholfen. Es waren Kleinigkeiten, wahrscheinlich lächerlich in den Augen der Eltern, aber die Kinder freuten sich auch über diese kleinen Aufmerksamkeiten. Sie straften die Aussage, dass Geschenke viel Geld kosten mussten, Lügen. Früher, als er noch in seinem Spielzeugladen in der Stadt gearbeitet hatte, war es der Reiz des Neuen gewesen, der die Kinder begeistert hatte. Heute war es eher die kleine Freude, die er ihnen in einer für sie so dunklen Zeit machte.

Der schwarze Mantel, den er über sein Gewand zog, schützte es draußen vor dem herabfallenden Schnee. Er hatte den Stoff in der Länge so über seinen Gürtel gerafft, dass er nicht unter den Rändern des Mantels hervorlugte.

Der alte Mann ging seinen Weg zu Fuß. In der Straßenbahn würde er in seiner Kleidung zu viel Aufsehen erregen und deshalb zu spät zu »seinen« Kindern kommen. Dieses Mal passte er besser auf, dass er keine Eisplatte übersah. Dennoch schweiften seine Gedanken ab. Vor einem Jahr noch war er auf diesem Weg nicht allein gewesen, sondern Gertie hatte ihn begleitet.

Gertie war immer dabei gewesen. War im Hintergrund stehen geblieben, wenn er seinen Platz in dem thronähnlichen Sessel einnahm, hatte dafür gesorgt, dass jedes Kind auch das richtige Geschenk bekam, und war seine gute Fee gewesen. Seine Tochter Ella hatte ihm vor zwei Tagen abgesagt, diesen Dienst zu übernehmen; sie musste noch arbeiten.

Der alte Mann atmete schwer und kämpfte die Tränen der Erinnerung zurück. Jetzt musste er stark sein. Für die Kinder, die auf ihn warteten. Und für das Andenken an Gertie. Er hatte es ihr versprochen.

Er ging über einen großen Parkplatz, auf dem an diesem Tag nur wenige Autos standen, zum Eingang des niedrigsten der Häuser, das an diesen angrenzte. Eine automatische Tür schwang auf und gab den Blick auf einen Tresen frei, hinter dem sich ein langer Flur erstreckte.

Die Dame, die hinter dem Tresen saß und gerade noch etwas in ihren PC eingegeben hatte, sah auf und lächelte. »Da sind Sie ja«, sagte sie. »Schön, dass Sie es dieses Jahr wieder einrichten konnten. Wo ist denn Ihre Frau?«

Der alte Mann ließ den Kopf sinken und schüttelte den Kopf. Er spürte, wie eine einzelne Träne seine Wange herunterrann. »Ich habe es ihr versprochen, heute Abend hier zu sein. Und ich halte meine Versprechen.«

Die Dame räusperte sich. »Tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

Der alte Mann winkte ab. »Sie konnten das ja nicht wissen.«

Er griff nach dem bereitgelegten Kittel und zog seinen Mantel aus. Die Mitra übergab er der Dame hinter dem Tresen. »Darf ich die gleich aufsetzen oder haben wir gerade frisch Therapierte?«

Die Dame schüttelte den Kopf. »Keine frisch Therapierten.«

»Wie viele Kinder sind denn hier?«, fragte der alte Mann.

»Bis auf fünf konnten wir Gott sei Dank alle zu Weihnachten nachhause entlassen«, sagte die Dame. »Die Eltern warten im Schwesternzimmer auf Sie. Warten Sie, ich melde Sie an.«

Sie griff zum Telefon und wählte eine Kurzwahl. Dann wechselte sie einige Worte mit der Stimme am anderen Ende der Leitung.

Kurz darauf huschten Schritte über das Linoleum des Ganges und eine Krankenpflegerin in blauer Kleidung erschien. Sie führte den alten Mann den Flur hinunter zu einer Tür, hinter der ihn die fünf Elternpaare der Kinder erwarteten, die ihr Weihnachtsfest hier verbringen mussten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Augen einem der Väter groß wurden.

»Oh nein ... das tut mir leid ... ich wusste ja nicht ...«, stammelte der.

Der alte Mann sah auf. Er blickte in das Gesicht des Passanten, der ihn nach seinem Sturz auf den eisigen Bürgersteig einen Penner genannt hatte. »Das ist zwar keine Entschuldigung für Ihr Verhalten, aber hier ist der falsche Ort, um das zu diskutieren.«

Der Passant vom Mittag räusperte sich. »Vielen Dank, dass Sie hier sind. Was haben Sie denn da schon in Ihrem Sack? Ich dachte, Sie bekämen die Geschenke für unsere Kinder von uns.«

»Das tue ich auch«, sagte der alte Mann. »Aber ich war in meinem Berufsleben Spielzeugmacher und habe einen eigenen Laden betrieben. Gönnen Sie mir die Freude, wenigstens einmal im Jahr noch das Leuchten in den Augen der Kinder zu sehen, wenn sie mein Spielzeug bekommen. Darf ich fragen, wie Ihr Kind heißt?«

»Amelie.« Der Mann blickte zu einer Frau, augenscheinlich Amelies Mutter. »Sie ist schon sechs Wochen hier.«

»Wie alt ist Amelie?«, fragte der alte Mann.

»Sechs. Sie ist in diesem Jahr in die Schule gekommen. Wir hoffen, dass sie bald wieder hingehen kann ... irgendwann.«

In jedem Jahr gab es solche Kinder. Der alte Mann wollte Amelies Vater nicht vor all den anderen Eltern ausfragen, glaubte aber, herausgehört zu haben, dass es um Amelie nicht gut stand.

»Darf ich fragen, was Sie ihr schenken?«, fragte er.

»In dem Päckchen ist nur ein Bild«, sagte Amelies Vater. »Wir bauen im Frühjahr ein Trampolin in unserem Garten auf. Das konnte ich schlecht mit hierher bringen.«

Der alte Mann lächelte. »Wenn es genauso groß ist wie die, die ich in den Gärten meiner Nachbarn sehe, wäre das in der Tat schwierig geworden.«

Häufig waren es die Eltern der Kinder, um die es am schlechtesten stand, die ihnen an Weihnachten die größten Geschenke machten. Ob die Kinder je in ihrem Leben die Gelegenheit bekamen, diese Dinge auch zu benutzen, stand selten fest.

Auch die anderen Eltern übergaben dem alten Mann die Geschenke für ihre Kinder. Dann gingen sie zurück in die Zimmer.

Die Krankenschwester, die ihn schon von der Pforte abgeholt hatte, begleitete ihn durch die Zimmer der kleinen Patienten. Einige von ihnen waren nicht nur in Gesellschaft ihrer Eltern. Zur Feier des Tages durften auch die Geschwister mitkommen.

Als sie aus dem vierten Zimmer kamen, blieb nur Amelie übrig. Für sie hatte der alte Mann aus dem Fundus seiner mitgebrachten Gaben einen kleinen Teddybären behalten.

Amelies Zimmer lag ganz am Ende des Flures. Auf dem Weg dorthin fragte der alte Mann: »Wie steht es um sie? Ich weiß, Sie müssen eigentlich Stillschweigen bewahren, aber...«

Die Krankenschwester schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ich weiß, dass Sie nicht damit hausieren gehen.« Es entstand eine kurze Pause. »Amelie hat gerade einen Zyklus hinter sich. Sie kämpft, aber es sieht nicht gut aus. Wenn wir sie im Januar entlassen, wird sie nicht gesund sein.«

Der alte Mann nickte stumm und kämpfte gegen den Kloß an, der sich in seinem Hals bildete. In fast jedem Jahr hatte es hier auf der Kinderonkologie kleine Patienten gegeben, denen er das letzte Weihnachtsfest ihres Lebens bescherte. Er blieb außer Sichtweite der Milchglastür zu Amelies Zimmer stehen.

»Geben Sie mir einen Moment«, sagte er. »Sie können gern zurück an ihre Arbeit gehen, ich schaffe das schon.«

Er griff durch einen der Schlitze, die Gertie ihm beim Schneidern seines Kostüms auf Höhe der Hosentaschen gelassen hatte, und tupfte seine Augen mit einem Taschentuch trocken. Auch wenn er Amelie nicht kannte, ging ihm ihr Schicksal jetzt schon nah.

Rasch stopfte der das Stück Leinenstoff in den Ärmel seines Pullovers. Dann trat er entschlossen vor die Milchglastür und klopfte an.

Amelie lag in ihrem Bett am Fenster. Auf der Bettkante saß ein etwa zwölfjähriger Junge. So ähnlich, wie sich die beiden Kinder sahen, war es sicher ihr großer Bruder. Auch seine Augen leuchteten, als er den Besucher eintreten sah, jedoch wahrscheinlich mehr aus dem Impuls der Freude darüber, dass jemand seiner Schwester eine Freude machte, heraus.

»Ho Ho Ho, fröhliche Weihnachten!«, schmetterte der alte Mann heraus, dessen Stimme sich wieder gefangen hatte.

Amelie lächelte. »Der Weihnachtsmann! Du kommst ja sogar ins Krankenhaus!«

Ihre Stimme war zart und brüchig.

Der alte Mann stemmte seine Hände in die Hüften. »Natürlich. Glaubst du, ich lasse die Kinder allein, die Weihnachten hier verbringen müssen? Ich habe auch etwas für dich mitgebracht«, sagte er und griff zuerst nach dem Umschlag, in dem das Bild von dem Trampolin war, die Amelies Eltern in den Garten bauen wollten.

»Du musst ganz schnell gesund werden«, sagte Amelies Vater. »Damit du auch darauf rumspringen kannst.«

Amelie versprach es. Der alte Mann griff nochmal in seinen Sack und holte den kleinen Teddybären heraus. »Der ist für dich, damit dich nicht so alleine fühlst hier drin.«

»Danke«, sagte Amelie und drückte das Plüschtier an sich.

»Ich muss weiterziehen. Es warten noch andere Kinder auf mich«, sagte der alte Mann.

Die Tür ging langsam auf und die Schwester kam herein. »Ich nehme den Weihnachtsmann jetzt wieder mit. Bleibt schön brav, dann kommt er nächstes Jahr wieder.«

Der alte Mann folgte ihr aus dem Zimmer hinaus. Als die Milchglastür wieder verschlossen war, fragte er: »Wie lange noch?«

Die Schwester wog den Kopf hin und her. »Wenn Sie mich fragen, noch höchstens ein halbes Jahr.«

Der alte Mann verschwand in den Räumen der Gästetoilette. Für den Rückweg brauchte er sein Kostüm nicht mehr und verstaute es in seinem jetzt leeren Sack. So hörte er auch noch, dass vor der Tür Unruhe entstand und nach einem Arzt gerufen wurde.

Vorsichtig, um auf keinen Fall den eilenden Schwestern und Ärzten Hindernisse in den Weg zu schieben, öffnete er die Tür zum Flur. Er versuchte, auszumachen, in welchem Zimmer gerade der Notfall eingetreten war. Alle Schwestern und Ärzte liefen in das letzte Zimmer auf dem Gang.

So unauffällig, wie es ihm möglich war, verließ er das Krankenhaus. Draußen war es jetzt ganz dunkel. Trotzdem schlug er den Weg zum Friedhof ein. Den Weg zu Gerties Grab fand er blind. Diesem gegenüber stand eine Bank, auf die er sich setzte und die Augen schloss.

Gertie erschien wieder vor seinen Augen und lächelte ihm zu. »Das hast du gut gemacht«, flüsterte sie. »Ab hier gehe ich mit Amelie weiter.«