CN: Tod, Sterbehilfe, Unfall, Verletzungen, Selbstmordversuch
Für die Wenigen unter euch, die von dem Roman, dem Hörbuch oder dem Film »Ein ganzes halbes Jahr« noch nie gehört haben, fasse ich noch einmal kurz zusammen. Dann werde ich kurz die Kritik von Behindertenverbänden am Thema der Geschichte nennen, bevor ich euch sage, wieso ich dieser Kritik widerspreche.
Worum geht es?
Louisa Clark, genannt Lou, lebt mit ihrer jüngeren Schwester und ihren Eltern in einer englischen Kleinstadt. Ob die Beziehung zu ihrem Freund Patrick, einem passionierten Triathleten, eine Zukunft hat, weiß sie nicht. Immer häufiger hat sie das Gefühl, dass er und sie in zwei verschiedenen Welten leben.
Ihre Arbeit in einem Café liebt sie. Deshalb ist der Schock groß, als ihr Chef das Café schließt, um nach Australien auszuwandern. Nach einigen vom Arbeitsamt vermittelten Jobs, von denen keiner ihr zusagt, wird ihr die Stelle als Gesellschafterin des Tetraplegikers Will Traynor vermittelt.
Will ist seit einem Motorradunfall, bei dem er selbst als Fußgänger involviert war, ab dem Hals abwärts quasi gelähmt. Lediglich Daumen und Zeigefinger der rechten Hand kann er noch bewegen, was es ihm ermöglicht, seinen Rollstuhl zu steuern. Gepflegt wird er von Krankenpfleger Nathan, der ihn, seit seiner Reha, betreut.
Vor seinem Unfall war er der Inbegriff des Erfolgsmenschen. Jung, im Begiff, die Karriereleiter im Sturm zu erobern, sportlich und in einer glücklichen Beziehung zu Freundin Alicia. Kurz gesagt: er holte aus seinem Leben alles heraus, was ging.
Mittlerweile hat er einen Selbstmordversuch hinter sich und allen Lebensmut verloren. Er lebt in einem eigenen Trakt im Haus seiner Eltern, die alles für ihn tun. An finanziellen Mitteln scheitert es nicht, denn die Familie Traynor ist im Besitz eines Schlosses. Seine vier Wände verlässt er nur zu seinen regelmäßigen Untersuchungen und schließt sich sonst von der Welt aus.
Auch Lou scheint bei dem Versuch zu scheitern, zu Will eine Verbindung aufzubauen. Erst nach und nach öffnet er sich ihr und lässt es zu, dass sie ihn mit hinaus in den Schlosspark nimmt. Die beiden verstehen sich immer besser und Will hat an guten Tagen sogar ein Lächeln für Lou übrig. Umso erschrockener ist Lou, als sie durch Zufall erfährt, dass ihr Vertrag aus einem bestimmten Grund von Anfang an nur auf ein halbes Jahr befristet war: Will möchte in die Schweiz reisen, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Überfordert zieht sie sich zurück. Als ihre Schwester ihr jedoch einen Wink gibt, Wills letzte Monate speziell zu machen, beginnt sie, ihn aus seiner Reserve zu locken. Auf ihrem gemeinsamen Weg mit Will erleben beide nicht nur schöne Momente, Lou lernt auch viel über sich selbst. Vor allem das Bewusstsein, jeden Tag zu leben, als wäre es der Letzte. Will vermittelt ihr, dass irgendwann nicht früh genug ist, weil morgen das Leben, das man heute noch für selbstverständlich hielt, vorbei sein kann.
Lou hofft, Will mit diesen Unternehmungen davon zu überzeugen, seinen Plan der Sterbehilfe zu verwerfen. Auf einer Reise nach Mauritius gesteht ihr Will jedoch seine Absicht, von der sie längst weiß. Auch er hat die Zeit sehr genossen, rückt aber nicht von seinem Vorhaben ab. Er hinterlässt Lou aber eine große Summe Geld hinterlassen und gibt ihr in einem Brief mit auf den Weg, sie solle endlich beginnen, zu leben.
Kritik der Behindertenverbände und meine Antwort darauf
Behindertenverbände, insbesondere Rollstuhlfahrer, kritisieren an der Handlung, sie vermittle, dass ein Leben als Behinderter nicht lebenswert sei und die Sterbehilfe deshalb als probates Mittel, das Leid und die Belastung zu beenden, gesehen werde.
Bevor ich genau darauf eingehe, möchte ich zwei Dinge vorab schreiben:
1. Ich selbst leide an einer Hirnwasserabflussstörung, im Volksmund auch »Hydrocephalus« oder »Wasserkopf« genannt. Ich sitze nicht im Rollstuhl, habe eine normale Schullaufbahn hinter mich gebracht und arbeite auf dem ersten Arbeitsmarkt. Mir geht es also gut. Allerdings weiß ich nicht, wie es ist, mit einem Mountainbike die Berge runter zu brettern, in den Hochalpen zu klettern oder im Winter die Skipisten unsicher zu machen. Weil meine Krankheit/Behinderung mir bei diesen Gelegenheiten die Grenzen dessen aufzeigt, zu was ich in der Lage bin.
2. Ich habe beide Großeltern mütterlicherseits durch Schlaganfälle verloren. Meine Großmutter väterlicherseits war durch eine Parkinsonerkrankung und deren Folgeerkrankungen für eine sehr lange Zeit pflegebedürftig, bevor sie gestorben ist.
Sam Claflin, der in der Verfilmung des Romans den Will Traynor verkörpert hat, sagte mal in einem Interview, er würde auch Wills Ende als Happy End sehen.
Ich teile diese Auffassung. Teils aus den Erfahrungen mit meiner eigenen Krankheit, teils aus den Erfahrungen mit meinen Großeltern heraus.
Mein Ansatz: Sehen wir Will Traynor mal nicht als Repräsentant der Tetraplegiker oder Rollstuhlfahrer, sondern als ein Individuum. Mit einem individuellen Lebenslauf. Mit Wünschen, Träumen und Zielen. Wie ich bereits in der Handlungsbeschreibung erwähnte, war er bis zu seinem Unfall ein sportlicher Workaholic und hat das Leben in vollen Zügen genossen. In seinen Träumen kann er das immer noch. Und immer, wenn er aufwacht, spürt er, dass er nichts spürt. Dass er für alles, was er tun will, auf Hilfe angewiesen ist. Und dass er von Tag zu Tag schwächer wird, weil seine Muskulatur abbaut. Das Ganze erlebt er, während sein Geist noch genauso umtriebig ist, wie vor dem Unfall. Und da er selbst nicht mehr in der Lage ist, seinem Leben ein Ende zu setzen, nimmt er in der Schweiz Hilfe in Anspruch.
Ich habe in Will Traynor teilweise meine Großmutter gesehen, die wegen der Folgeerkrankungen ihrer Parkinsonkrankheit schwerst pflegebedürftig war. Auch sie hat, bis dass die Krankheit sie ausgebremst hat, ein sehr eigenständiges Leben geführt. Alles selbst gemacht. Und für sie muss es die Hölle auf Erden gewesen sein, das alles nicht mehr zu können.
Meine andere Großmutter hat, als sie kurzzeitig wegen eines Rückenleidens, das ihr die Fortbewegung sehr schwer gemacht hat, und von dem nicht sicher gesagt werden konnte, ob je Besserung eintritt, auch unser aller seelische Unterstützung gebraucht, um nicht den Mut zu verlieren (Spoiler: Sie hatte danach noch fast fünf nahezu schmerzfreie Jahre und ich habe sie strahlen sehen, als sie wieder ihren ersten Spaziergang nur mit einem Gehstock »bewaffnet« machen konnte). Hätte sie ihren Schlaganfall überlebt, wäre sie zum Schwerst-Pflegefall geworden und hätte sich nicht mehr ausdrücken können. Es war unsere Aufgabe als Familienangehörige, dieses Leid, das sie sicher empfunden hat, nicht unendlich in die Länge zu ziehen, sondern ihr ein möglichst humanes Lebensende zu ermöglichen.
Als jemand, der von vorn herein eine Behinderung hatte, hat man dieses Vorleben eines Will Traynor nicht. Und es baut sich kein Erinnerungs-Bilderalbum auf, das nach so einem Schicksalsschlag wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft. Ständig begleitet von dem Gedanken: »Das war mal mein Leben.«
Es ist leicht gesagt, wenn von Mitmenschen Aussagen, wie »Da musst du dich jetzt dran gewöhnen« und »Aber xy kannst du doch trotzdem noch machen« getätigt werden, die mit Sicherheit gut gemeint sind. Aber für die Betroffenen ist es Folter. Und man bekommt schnell das Gefühl, einerseits bevormundet und andererseits nicht verstanden zu werden. Ich sehe den Umgang mit derlei Schicksalsschlägen als einen sehr individuellen Prozess. Ich weiß selbst nicht, wie ich in solch einer Situation reagieren würde und hoffe, nie in die Situation zu kommen, für alles auf Hilfe angewiesen zu sein. Ich liebe mein eigenständiges Leben.
Will Traynor ist für mich ein Individuum, das nicht den Willen und die Kraft hat, sein Schicksal anzunehmen. Solche Menschen gibt es. Und sie sollten genauso in der Literatur vertreten sein, wie Menschen, die damit umgehen lernen.